Der Blender – The Imposter (UK 2012) von Bart Layton |
1994 verschwindet der 13-jährige Nicholas Barclay spurlos. Die Polizei interessiert sich nicht besonders für den Fall, da Nicholas schon öfter von zuhause ausgerissen ist, und generell als schwieriges, rebellisches Kind gilt. Die einzigen, die sich wirklich Sorgen machen, sind die Mitglieder seiner Familie. Nicholas bleibt wie vom Erdboden verschluckt, niemand findet den keinsten Hinweis auf seinen Verbleib.
3 Jahre später: Frédéric Bourdin hat mit Identitätsdiebstahl bereits einige Erfahrungen gesammelt. Jetzt hat der 23-jährige es geschafft, als angeblicher Teenager in ein spanisches Jugendheim aufgenommen zu werden. Da die dort arbeitenden Menschen unbedingt wissen möchten wer er ist, benötigt er die Identität eines jungen Mannes, die er benutzen kann. Nach ein Paar Telefonaten erfährt er von dem vermissten Nicholas. Er erzählt den spanischen Behörden, er sei Nicholas Barclay, der vor drei Jahren von einigen Pädophilen entführt und nach Spanien verschleppt worden sei. Als Nicholas‘ Schwester Frédéric abholt, gelingt es ihm, erst sie und danach die ganze Familie davon zu überzeugen, dass er Nicholas ist…
Der Blender – The Imposter von Bart Layton
Zunächst gibt es hier von mir die massivste Spoilerwarnung in der Geschichte dieses Blogs, da ich nicht nur über den Inhalt, sondern auch über die Kniffe, die Bart Layton anwendet, um den Zuschauern seine Botschaft zu vermitteln. Also: Wenn ihr „Der Blender – The Imposter“ noch nicht gesehen habt, dann schaut ihn euch vorher an und zwar am besten, ohne zuvor auch nur eine weitere Zeile zu dieser Dokumentation zu lesen. Alle anderen können gleich mit dem nächsten Absatz weitermachen. Ich warte so lange, bis ihr euch den Film, angesehen habt, okay? 😉
*wart*
Okay, machen wir weiter im Text. Ich nehme hier, entgegen meiner sonstigen Angewohnheit, das Fazit vorweg: Laytons Dokumentation ist brillant, ein in mehrfacher Hinsicht Meisterwerk des Genres. Layton gelingt etwas Unglaubliches: Er schafft es mühelos, den Zuschauern zu vermitteln, wie Bourdin die Barclays davon überzeugen konnte, ihr lange vermisster Sohn zu sein. Dazu bedient sich Layton einiger subtiler Hilfsmittel. Zunächst einmal ist Bourdin der einzige, der bei den Interviews direkt in die Kamera blickt. Bourdin nutzt das, indem er mühelos durch seinen Blick jegliche Distanz zu seinem Publikum zu überwinden, man hat beinahe das Gefühl, dass Bourdin bei dir im Wohnzimmer sitzt und dir die Geschichte bei einem Bierchen erzählt. So wirkt er, selbst wenn er von seinem größten Betrug erzählt, wie ein nun geläuterter, grundehrlicher Mensch. Er wirkt so sympathisch und er hat ein extrem ansteckendes Lachen. Das Wissen, dass es sich hier um einen hochintelligenten Lügner und Betrüger handelt, der keinerlei Skrupel hat, die Gefühle von schwer traumatisierten Menschen auf die hinterhältigste Weise auszunutzen, hat man da bereits verdrängt. Laytons Entscheidung, mit der Kamera signifikant weniger Distanz zu Bourdin zu halten als zu den anderen, unterstützt diesen Eindruck.
Ein Mann ohne Hintergrund
Das nächste Detail ist ein wenig schwieriger zu bemerken. Wer sich bei den Interviews nicht nur die Interviewpartner, sondern auch die Hintergründe, vor denen sie sitzen. Bei fast allen kann man irgend etwas erkennen, das uns etwas über die Lebensumstände des oder der Interviewten verrät: Bei der FBI-Agentin sieht man den Arbeitsplatz, bei Nicholas‘ Schwester die Einrichtung des Wohnzimmers, etc… Nur bei Bourdin ist der Hintergrund komplett verschwommen. Ein Mann ohne Hintergrund, kommt aus dem Nichts und das wird von Bart Layton genau so gezeigt.
Eine weitere wichtige Zutat liefert schließlich Bourdin selbst: Er muss vor der Kamera lügen, um zu zeigen, wie überzeugend er dabei sein kann. Und das tut er, er zieht in der Dokumentation nämlich den gleichen Trick ab, wie beim FBI nach seiner Entlarvung: Er versucht, den Zuschauer davon zu überzeugen, dass die Barclays wissen, was mit dem echten Nicholas geschehen ist, und er höchstwahrscheinlich von dessen (nun bereits verstorbenen) Bruder Jason ermordet worden sei. Die Barclays hätten ihn nur deshalb nicht sofort entlarvt, weil sie so den Mord genial vertuschen konnten. Diese Geschichte klingt eigentlich absolut unglaubwürdig. Trotzdem glaubt man Bourdin jedes Wort davon. Zu dem Zeitpunkt, an dem er zum ersten Mal offen über diese Theorie von ihm redet, hat er sein Publikum so geschickt mit einer Mischung aus Wahrheit und Lüge auf dieses Ziel hin manipuliert, dass man ihm ab diesem Moment nur noch aus der Hand frisst. Der Typ hätte genauso gut erzählen können, dass er meine verstorbene Großmutter sei, und ich hätte ihm geglaubt. Ein gutes Beispiel hierfür ist die angebliche Konversation, von welcher er erzählt, und die er bei seinem einzigen Treffen mit Nicholas‘ Bruder Jason gehabt haben will. Da erzählt Bourdin davon, dass Jason sich nicht so verhalten habe, als ob Nicholas sein Bruder wäre. Am Ende des Besuches habe Jason ihm viel Glück gewünscht. Das erkennt man zwar als etwas seltsame Verabschiedung, denkt sich aber noch nichts dabei. Wenn Bourdin dann langsam damit beginnt, den Verdacht auf Jason zu lenken, fragt sich der Zuschauer ganz von allein folgendes:“Moment mal…wofür hat er ihm eigentlich viel Glück gewünscht? Vielleicht beim Versuch, Nicholas zu imitieren? Wusste Jason etwa, dass dieser junge Mann unmöglich Nicholas sein kann? Wenn ja, warum?“ Der Zuschauer hat das Gefühl, ganz von allein etwas Unglaubliches entdeckt zu haben und so glaubt man Bourdin viel leichter, wenn er schließlich offen sagt, dass Jason seiner Meinung nach Nicholas umgebracht hat. Bourdin gibt zu einem früheren Zeitpunkt ein gutes Beispiel für diese Art der Manipulation. Er beschreibt eine spezielle Begebenheit kurz nachdem er den spanischen Behörden zum ersten Mal erzählt hatte, er sei Nicholas so: „Ich habe nie gesagt, dass ich sexuell missbraucht worden bin. Ich habe sie dazu gebracht, danach zu fragen.“ Dieser junge Mann schaffte es also innerhalb einer kurzen Zeitspanne, die ihn befragenden Beamten so gut einzuschätzen, dass er sie in die von ihm gewünschte Richtung lenken konnte.
Begründete Zweifel?
Den wichtigsten Punkt liefern weder Layton noch Bourdin, sondern der Zuschauer: Den Zweifel. Jeder Mensch fragt sich doch automatisch folgendes: „Wie kann es sein, dass die Barclays ihr eigenes Kind/ihren eigenen Bruder nicht erkennen? Mir würde das bestimmt nicht passieren!“ Selbst als immer offensichtlicher wurde, dass Bourdin unmöglich Nicholas sein kann, halten die Barclays verzweifelt an der Illusion von der wiedervereinten Familie fest. Dann kommt Bourdin und liefert – bevor man länger darüber nachdenken kann – eine auf den ersten Blick plausible Begründung: Diese Familie hat etwas zu verbergen! Das macht er so überzeugend, dass sogar das FBI darauf hereingefallen ist, und dieselbe Agentin allein aufgrund seiner Aussagen eine Mordermittlung gegen die ganze Familie einleitete, und das nachdem sie ihn nur kurz zuvor als den größten Betrüger entlarvt hatte, der ihr jemals begegnet ist. Die Agentin war (und ist noch immer) so sehr davon überzeugt, dass Bourdin ihr die Wahrheit erzählt hat, dass sie Nicholas‘ Mutter so lange Lügendetektortests machen ließ, bis diese – obwohl sie die ersten beiden Tests mit Bravour bestanden hatte – beim dritten Versuch schließlich durchfiel und das dem FBI „genehme“ Ergebnis lieferte. Dass eine Frau, die sich selbst in einer so durchgeknallten Ausnahmesituation befindet, die ihren Sohn nun zum zweiten Mal verloren hat, irgendwann zusammenbrechen muss, ist den zuständigen FBI-Leuten bis heute nicht eingefallen, wenn bei den Interviews gesagt wird, dass man nach wie vor davon überzeugt sei, dass die Barclays Nicholas ermordet haben. Nur: Das alles sieht man beim ersten Ansehen selbst so. Nur: Dadurch, dass Bourdin die Zuschauer auf die selbe Art manipuliert hat, sehen diese an dieser Stelle nur noch nickend zu. Erst wenn man als Zuschauer gegen Ende des Filmes alles noch einmal Revue passieren lässt und dabei wirklich in die Tiefe geht, kommen einem erste Zweifel und man bemerkt, was man alles bereitwillig übersehen hat: Dass es für das angebliche Gespräch mit Jason keine weiteren Zeugen gibt. Dass eine schwer traumatisierte, dysfunktionale Familie aus einer bildungsfernen Schicht (so wusste die Schwester zum Beispiel nicht, wo Spanien ist, oder dass es dort auch Coca Cola gibt), die sich nichts mehr wünscht, als dass ihr geliebter Nicholas zu ihnen zurückkehrt, keine Chance gegen einen Profibetrüger wie Bourdin haben kann. Dass die Polizei an dem Fall ursprünglich äußerst desinteressiert war und die Barclays keinen Grund für eine Vertuschungsaktion hatten. Dass das von der FBI-Agentin als so verdächtig geschilderte Verhalten problemlos mit eben jenem Wunsch und dem erlittenen Trauma erklärt werden. Bourdin bringt einen dazu, all das zu ignorieren und seiner Version der Geschichte zu folgen. Damit beantwortet sich auch die oben gestellte Frage: „Wie kann es sein, dass die Barclays ihr eigenes Kind/ihren eigenen Bruder nicht erkennen?“ Ganz einfach: Du hast es als Zuschauer gerade am eigenen Leib erfahren. Denn so wie er bei den Barclays den Wunsch, Nicholas wieder in die Arme schließen zu können, für seine Zwecke ausnutzen konnte, nutzt Bourdin in der Dokumentation die oberflächlich berechtigten Zweifel der Zuschauer, um diese für seine Seite zu gewinnen und so teilweise von seiner Schuld abzulenken. Versteht mich nicht falsch: Die Möglichkeit, dass einer der Barclays etwas mit dem Verschwinden von Nicholas zu tun hat, besteht nach wie vor. Man kann aber nicht allein aus der Aussage von Bourdin der Familie einen Strick drehen.
Eine Lektion als Selbsterkenntnis
Durch Bart Laytons Dokumentation sieht man nicht nur eine unglaubliche Geschichte, die außerdem noch spannend erzählt wird. Sie zeigt dem Zuschauer etwas sehr Erschreckendes: Wie leicht manipulierbar er selbst ist.