Gastbeitrag: Kinderlieder und ihre seltsamen Texte

Es ist schon etwas länger her, dass es auf dieser Seite einen Gastbeitrag gab. Thomas Nezold ist Vater einer kleinen Tochter und hat sich mit den Texten deutschsprachiger Kinderlieder befasst. Die sind, wenn man sich näher damit beschäfigt, sehr eigenartig. Viel Spaß beim Lesen!


Es ist schon etwas länger her, dass es auf dieser Seite einen Gastbeitrag gab. Thomas Nezold ist Vater einer kleinen Tochter und hat sich mit den Texten deutschsprachiger Kinderlieder befasst. Die sind, wenn man sich näher damit beschäfigt, sehr eigenartig. Viel Spaß beim Lesen!

Habt Ihr die Texte von Kinderliedern jemals wirklich genau gelesen? Ist Euch dabei schon einmal aufgefallen, wie… ähm… seltsam unsere Kinderlieder eigentlich sind?

Betrachten wir einmal das ganze Bild: In unseren Kindermärchen werden Hexen lebendig verbrannt, Wölfen zwecks erfolgreicher Ersäufung Steine in den Bach genäht, der Erste, den Du nach 100jährigem Schlaf siehst, ist die Liebe Deines Lebens, und es wird alles gut, wenn Du Dich nur lange genug von der bösen Stieffamilie ausnützen lässt, während Dein leiblicher Vater offenbar wegschaut. Zusätzlich begleitet wurde zumindest meine Generation im Kinder-TV mit Depressionsbeschleunigern wie Perrine und Niklaas – Ein Junge aus Flandern (der im Finale übrigens – entgegen dem Versuch der deutschen Synchronisierung, alles zum „Traum über Engel“ zu verharmlosen – mitsamt Hund am Boden einer Kirche erfriert, und das in der Weihnachtsnacht… auch eine Definitionsmöglichkeit für das Wort „Overkill“), gefolgt von Zeigefingermoralpredigten wie Puschl, das Einhorn oder Calimero. Wen wundert es da, dass auch unser Liedgut für die Kleinen nicht unbedingt dem entspricht, was zumindest ich meiner kleinen Tochter vorsingen würde.

Wirklich bewusst wurde es mir persönlich, als meine kleine Tochter im Babyalter am Besten mit dem Lied Swing Low, Sweet Chariot zum Schlafen zu bringen war. In diesem Gospel geht es bekanntlich um jemanden, dessen Leben gerade endet und der von eine „band of angels“ in den Himmel transportiert wird. Trotz des zutiefst optimistischen Grundtones dieses Liedes (und auch der fehlenden Härte von Elvis‘ Glory, Glory Hallelujah, das den sterbenden unmissverständlich als Vater eines Kindes definiert, der sich aber darüber freut, das „all his trials will be over soon“ sein werden) fand ich es als Schlaflied für ein Baby dann doch eher seltsam… bis ich mir die Texte unserer Kinderlieder vergegenwärtigte.

Vorab: So manches, was wir heute als textliche Entgleisung empfinden, ist historisch begründbar und wird heute einfach anders verstanden als zu der Zeit, in der der Text entstanden ist. Das beste Beispiel hierfür ist das wohl bekannteste Schlaflied des deutschsprachigen Raumes:

 

Guten Abend, gut‘ Nacht

Mit Rosen bedacht

Mit NÄGLEIN besteckt..

 

AUTSCH!!!

Nur verliert dies schnell seinen Schrecken, wenn man weiß, dass mit „Näglein“ zu damaliger Zeit die Gewürznelken gemeint waren. Also alles halb so wild…

 

Schlüpf‘ unter die Deck‘

Morgen früh wenn Gott will

Wirst Du wieder geweckt…

 

Das wirkt im ersten Moment sehr morbide und unheilvoll, nur stammt das Lied aber eben aus einer extrem gottesfürchtigen Zeit, in der diese Zeilen den heute dabei empfundenen Subtext „plötzlicher Kindstod“ schlichtweg nicht hatte.

Wenden wir uns nun aber denen zu, für die die Begründung „historischer Kontext“ beim besten Willen nicht angewendet werden kann, und beginnen wir hierbei gleich mit einem der prominentesten Vertreter:

 

Fuchs, du hast die Gans gestohlen,

gib sie wieder her!

Sonst wird dich der Jäger holen,

mit dem Schießgewehr.

 

Aha, okay, wir rüsten also schon in Strophe 1 auf. Na, das kann ja noch heiter werden…

 

Seine große, lange Flinte

schießt auf dich den Schrot,

dass dich färbt die rote Tinte

und dann bist du tot.

 

Oioioi… Von metaphorischen Umschreibungen hält unser Texter (ein gewisser Ernst Anschütz, für alle, die’s interessiert) nicht sonderlich viel. Er geht gleich in die Vollen und ballert um sich.

 

Doch das Schönste kommt noch:

Liebes Füchslein, lass dir raten,

sei doch nur kein Dieb;

nimm, du brauchst nicht Gänsebraten,

mit der Maus vorlieb.

 

Ahaaaa… mit der Maus kann man’s also machen. Die ist ja kein lebendes Wesen… (also zumindest keines, das WIR essen würden.)

Nein, ich bin kein radikaler Tierschützer, bei mir reicht’s nicht mal zum Vegetarier, aber ein Text, der Tiertode derart verharmlost, ist wohl doch eher unangebracht.

(Abgesehen davon: Der Fuchs frisst doch den armen Katzen das Futter weg!!!)

 

Also dann, zum nächsten Lied, und diesmal begeben wir uns in die Welt der Schlaflieder:

 

Müde bin ich, geh‘ zur Ruh‘,

Schließe beide Augen zu:

Vater, laß die Augen dein

Über meinem Bette sein!

 

Oooooch, wie süß. Gut, mit „Vater“ kann sowohl Papa als auch Gott gemeint sein, aber… naja, kommt aus einer religiösen Zeit also siehe oben.

 

Hab’ ich unrecht heut’ gethan,

Sieh’ es, lieber Gott, nicht an!

Deine Gnad’ und Jesu Blut

Macht ja allen Schaden gut.

 

Vom süßen Schlaflied zur knallharten Christenpropaganda in 2 Sekunden – das dürfte Rekord sein.

Zudem gehe ich davon aus, dass dieses Lied wohl für Kleinkinder getextet wurde, und die stolpern ja bekanntlich kopfüber von einem „Unrecht“ ins Nächste.

 

Fern von mir sei Haß und Neid,

In mir Lieb’ und Gütigkeit.

Laß mich Deine Größe schaun,

Nur auf Dich, o Gott, vertraun.

 

Ja, wir haben’s verstanden: Gott ist groß, gütig, liebevoll und was weiß er selber nicht noch alles. (Kleine Betriebsunfälle wie etwa verheerende Wasserschäden und andere Schelmereien mal ausgenommen… Hab ich eigentlich schon erwähnt, dass ich Atheist bin?)

 

Alle, die mir sind verwandt,

Gott, laß ruhn in deiner Hand,

 

ES IST GUT!!! WIR HABEN ES VERSTANDEN!!!

 

Alle Menschen, groß und klein,

Sollen dir befohlen sein.

Na soweit kommt’s noch…

Hilf den Armen in der Not,

Sei auch gnädig uns im Tod.

Schenk uns Frieden, bann den Krieg.

Dir gehört der letzte Sieg.

 

Natürlich, kein Schlaflied ohne Krieg und Tod…

 

Kranken Herzen sende Ruh’,

Nasse Augen schließe zu!

Laß den Mond am Himmel stehn

Und die stille Welt besehn!

 

Was genau meint Ihr mit „Nasse Augen schließe zu!“ Man fragt ja nur…

Unverblümte Christenpropaganda wie etwa die Filme Gott ist nicht tot oder Megiddo – Der Omega Code II können ja gerne mal mit einer gehörigen Portion unfreiwilligen Humor aufwarten, aber in einem SCHLAFLIED mögen unsere Kinder bitte von „Gott, sei bitte lieb zu uns“, „Lass uns bitte hier nicht leiden und zur Hölle fahren“ und ähnlichen „Don’t stick us on a barbecue“ – Schwachsinn (das für die Monty Python-Fans unter uns) verschont bleiben. Danke.

 

Betreten wir nun die wunderbare Welt der Weihnachtslieder:

 

Kling, Glöckchen, klingelingeling,

kling, Glöckchen, kling!

Laßt mich ein, ihr Kinder,

ist so kalt der Winter,

öffnet mir die Türen,

laßt mich nicht erfrieren.

 

Herrjemine, können wir bitte einmal ein Lied schreiben ohne Tod, Todesandrohung oder Todesgefahr?

 

Mädchen hört und Bübchen,

macht mir auf das Stübchen,

bring’ euch milde Gaben,

sollt‘ euch dran erlaben.

 

Ach, es gibt milde Gaben? Na Dein Glück, ansonsten erfrier‘ doch da draußen!!!

 

Hell erglühn die Kerzen,

öffnet mir die Herzen,

will drin wohnen fröhlich,

frommes Kind, wie selig.

 

Und wir sind schon wieder am Herumfrömmeln. Aber gut, es ist ein Weihnachtslied, also sei’s drum.

Was hier so massiv stört: Ja, wir alle wissen, dass auf dieser Welt ohne Gegenleistung kaum etwas geht, aber muss man die Kleinen darauf ausgerechnet mit einem WEIHNACHTSLIED darauf vorbereiten?

Soweit ein kleines, harmloses Zwischenspiel, jetzt wird’s richtig creepy:

 

Alle Jahre wieder

Kommt das Christuskind

Auf die Erde nieder,

Wo wir Menschen sind.

 

Soweit so gut…

 

Kehrt mit seinem Segen

Ein in jedes Haus,

Geht auf allen Wegen

Mit uns ein und aus.

 

Aha, das Christuskind ist also ein Stalker.

 

Steht auch mir zur Seite

Still und unerkannt,

Dass es treu mich leite

An der lieben Hand.

 

Ich fasse zusammen: Egal, wo wir gerade sind und egal was wir tun, immer steht irgendwo neben uns eine unsichtbare Entität, die vom Konzept des freien Willens nicht allzu viel hält und steuert, was wir tun. Ist ein solches Bild nicht im besten Fall eher unbehaglich? (Klingt für mich, wie die Christenversion von „Every breath you take“… Anm. der Redaktion ;))

 

So, liebe Freunde des klassischen Liedguts, das war jetzt alles recht seltsam, düster und morbide, und doch: Gegen das Finale unserer Betrachtungen waren das alles Kinkerlitzchen für den Kindergeburtstag. Jetzt kommt sie, ohne Gnade, die volle Dröhnung. Der Oberhammer. Der Olymp des Grauens im harmlosen Gewande.

Maestro, bitte Vorhang auf:

 

Aber heidschi bumbeidschi, schlaf lange,

es is ja dein Muatter ausganga;

sie is ja ausganga und kimmt neamer hoam

und laßt das kloan Biabele ganz alloan!

Aber heidschi bumbeidschi bum bum,

aber heidschi bumbeidschi bum bum.

 

Mama verlässt Kind und kommt nicht mehr heim. Ja, genau so fängt man ein Schlaflied an…

 

Aber heidschi bumbeidschi, schlaf siaße,

die Engelen lassn di griaßn!

Sie lassn di griaßn und lassn di fragn,

ob du in‘ Himml spaziern willst fahrn.

Aber heidschi bumbeidschi bum bum,

aber heidschi bumbeidschi bum bum.

 

Ähm… WIE BITTE? Mama geht weg und die Engel schwirren schon herum und laden zur Besichtigungstour?

 

Aber heidschi bumbeidschi, in‘ Himmel,

da fahrt di a schneeweißer Schimml,

drauf sitzt a kloans Engei mit oaner Latern,

drein leicht‘ von‘ Himml der allerschenst Stern.

Aber heidschi bumbeidschi bum bum,

aber heidschi bumbeidschi bum bum.

 

Lieber (unbekannter) Texter: Was auch immer Du genommen hast, es war zu viel. Oder zu wenig.

 

Also gut, auf zum großen Finale:

Der Heidschi bumbeidschi is kumma

und hat ma mein Biable mitgnumma;

er hat ma’s mitgnumma und hats neamer bracht,

drum winsch i mein‘ Biaberl a recht guate Nacht!

Aber heidschi bumbeidschi bum bum,

aber heidschi bumbeidschi bum bum.

 

Lassen wir die höchst fragwürdige Interpretation der illegalen Seite des politischen Spektrums, die behauptet, unser Biaberl sei von Osmanischen Heeren verschleppt und in die Sklaverei verkauft worden, da „Heidschi“ eben zufällig so ähnlich wie „Hadschi“ klingt und „Bumm Bumm“ auf die Trommeln des osmanischen Heeres hindeutet, jetzt einfach einmal außen vor und fassen zusammen, was hier gerade wirklich passiert ist:

Mama lässt Büblein völlig allein zu Hause. Der hat daraufhin Visionen vom Himmel und landet schließlich auch genau dort, sprich: STIRBT!!! Das ganze unter dem lieblichen Titel Heidschi Bumbeidschi, in Strophe 3 auch gleich der Name des Sensenmannes höchstselbst, und mit einer lieblichen Melodie, die diese Traumazündung als harmloses Wiegenlied tarnt.

Eltern, die ihrem Kind dieses Lied als Schlaflied singen, haben demnach entweder nie auf den Text geachtet oder lesen vorher Gute Nacht – Geschichten von Edgar Allan Poe und Stephen King vor.

So, das war sie, die kleine Rundreise durch unser Liedgut für die Kleinen. Hier werden also fröhlich Tiere faschiert, Kinder schon im Kleinkindalter religionsparanoid gesungen und in offensichtlichen Drogenräuschen oder Fieberträumen gestorben. Und diese Liste erhebt beileibe keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Da hilft dann wohl nur eines: Umdichten.

Kleiner Vorschlag gefällig?

 

Die Maja hat die Wurst gestohlen

Gibt sie nicht mehr heeeeer,

Gibt sie nicht mehr heeeeer.

Der Papa muss sich neue holen, der Kühlschrank der ist le-e-eer

Die Mama lacht den Papa aus,

Der Kühlschrank, der ist leer.

 

Kleine Hintergrundinfo: Maja ist unser Schäferhund. Ihr werdet nicht glauben, in wie vielen Kinderliedern dieser Hund vorkommt…

(Und ja, dieses kleine Liedlein basiert auf wahren Begebenheiten.)


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