Gastbeitrag von Frederik Weitz: Die Kreativität der Schriftsteller

Der dritte und letzte Gastkommentar zum Bloggeburtstag kommt von dem Autor, Text-Coach und Kommunikationstrainer Frederik Weitz. Auf seinem Blog Werkzeugkasten kann man sich nicht nur über die von ihm veröffentlichten Sachbücher und Erzählungen informieren, sondern auch sehr interessante Artikel über kreatives Schreiben, Philosophie und viele andere Themen lesen.


Der dritte und letzte Gastkommentar zum Bloggeburtstag kommt von dem Autor, Text-Coach und Kommunikationstrainer Frederik Weitz. Auf seinem Blog Werkzeugkasten kann man sich nicht nur über die von ihm veröffentlichten Sachbücher und Erzählungen informieren, sondern auch sehr interessante Artikel über kreatives Schreiben, Philosophie und viele andere Themen lesen.

Was an der Schriftstellerei ist eigentlich kreativ und wie lernt man schriftstellerische Kreativität? Versucht man diese Frage zu lösen, landet man häufig bei Darstellungen, die leider wenig präzise sind. Glücklicherweise entdeckt die Soziologie in Deutschland gerade einen in Vergessenheit geratenen Klassiker wieder: Gabriel Tarde. Und der hat zwei recht erstaunliche und erstaunlich einfache Erklärungen dafür, wie in der Gesellschaft Neues entsteht und wie der einzelne Mensch dazu beiträgt.

Nachahmung

„Besser gut geklaut als schlecht selbst gemacht“, hieß es damals, als ich mich als kleiner Möchtegern-Pianist in Jazzbars herumgetrieben habe. Das sollte heißen: Spiel doch lieber die großen Klassiker des Jazz, als selbst etwas zu komponieren.
„Als Schriftsteller muss man gut klauen können“, sagte ein Lehrer zu mir, der eine Zeit lang so etwas wie ein Mentor von mir war.
Beide Sprüche zielen auf ein Phänomen, das in der Soziologie immer wieder eine Rolle gespielt hat, aber nie im Zentrum ihrer Betrachtungen gestanden hat. Dies ist das Phänomen der Nachahmung. Doch natürlich gab es Vertreter einer solchen Theorie und deren Protagonist ist eben jener Gabriel Tarde, der in Frankreich von 1843-1904 gelebt hat. Eines seiner Hauptwerke heißt „Die Gesetze der Nachahmung“.
In diesem Werk versucht Tarde zu zeigen, dass die Nachahmung ein wesentlicher Mechanismus der Gesellschaft ist. So ahmen die Berufe sich innerhalb ihres Metiers nach. Ein wesentlicher Bestandteil der Berufsausbildung besteht darin, solche Nachahmungen auszuführen. Kinder ahmen ihre Eltern oder Figuren nach. Sie spielen „Kuchen backen“ oder „Piratenangriff“.
So lassen sich zahlreichen soziale Phänomene gut und ohne große Probleme mit diesen (wie Tarde es nennt) Nachahmungsströmen erklären. Die Mode ist ein sehr typisches Beispiel dafür (und insgesamt die ganze Werbung). Mode wäre keine Mode, wenn es in ihr nicht eine starke Lust zur Nachahmung gäbe. Aber auch die öffentliche Meinung basiert auf solchen Nachahmungsphänomenen.

Erste Art der Kreativität

Wie und wo kommt nun die Kreativität ins Spiel und vor allem die schriftstellerische Kreativität?
Denn bisher können wir nur mit Tarde sagen, dass Nachahmung ein wichtiges Phänomen ist, dass sie aber nichts Neues schafft. Und hier hat Tarde einen äußerst genialen Einfall. Neues entsteht nämlich überall dort, wo sich zwei Nachahmungen vermischen und so ein neues Gefüge bilden.
Was aber heißt das?
Nehmen wir ein äußerst populäres Beispiel: Harry Potter. Rowling ahmt auf der einen Seite die Internats-Jugendbücher nach (zum Beispiel Hanni und Nanni von Enid Blyton) und auf der anderen Seite Fantasy-Literatur (insbesondere wohl die Narnia-Bücher). Drittens legt sie aber auch auf deutliche Krimi-Elemente wert. Diese drei Strömungen kreuzte die Autorin nun und bekam dadurch einen erstaunlichen und zurecht erfolgreichen Mix hin, der als neu empfunden wurde.
Ein weiteres Beispiel für ein solches Kreuzen von Nachahmungen sind die Jugendbücher von Kai Meyer. Meyer nimmt eine Art reales Szenario, so in seiner Wellenläufer-Trilogie die Karibik im 18. Jahrhundert und überschreibt dieses mit fantastischen Elementen. Genauso verfährt er auch in seiner Drachen-Trilogie, die ein zeitlich unbestimmtes China als Grundlage für ein Weltuntergangsszenario nutzt.
Auch Stephenie Meyer zeigt dies. Ihr erstes Buch der Twilight-Saga kreuzt die klassische Romeo & Julia-Story mit zeitgenössischen Vampirromanen, insbesondere den (halb-)romantischen von Anne Rice.
Nicht die Nachahmung selbst, sondern die Vermischung von zwei bislang getrennt laufenden Nachahmungen erzeugt also kreative Effekte.

Zweite Art der Kreativität

Es gibt aber noch eine zweite Art der Kreativität und diese ist derzeit ungleich interessanter.
Haben Sie sich bisher auch gefragt, woher all diese schlechten Vampirromane und Krimis im E-Book-Bereich kommen? Nun, Tarde würde wiederum sagen: aus der Nachahmung. Vor einigen Jahren wurden die Verlage mit zahllosen Manuskripten gequält, in denen Jungs mit Narben auf der Stirn plötzlich entdeckten, dass sie Zauberer sind und nun auf eine Zaubererschule gehen müssen. Und diese literarische Idee wurde als völlig neu angepriesen.
War sie natürlich nicht. Sie war von Harry Potter abgekupfert.
Für Tarde allerdings sind solche Wiederholungen fruchtbar, weil sie unvollständige Wiederholungen sind. Dadurch, dass die Nachahmung von komplexen Produkten nie vollständig gelingt, entsteht doch etwas Neues.
Allerdings kann man folgenden Unterschied zwischen der Vermischung und der unvollständigen Wiederholung festmachen: die Vermischung greift in den Kern der nachgeahmten Werke ein. Harry Potter ist nicht mehr Hanni und Nanni, aber auch nicht Narnia. Dagegen sind die zahllosen Vampirschmonzetten, die derzeit auf Kindle erscheinen, sehr eindeutig Wiederholungen von Twilight oder ähnlichen Werken. Aber es sind eben nie komplette Wiederholungen, sondern vergessen Aspekte. Und hier entstehen die kreativen Effekte eher am Rande.

Nachahmung und Analogie

Rein logisch gesehen basiert die Kreativität entweder auf der echten Nachahmung oder auf der funktionellen Entsprechung.
Die echte Nachahmung bedeutet die Wiederholung, auch wenn diese dann unvollständig wird. Sie bedeutet, dass ein junger Autor oder eine junge Autorin sich hinsetzt und einen Roman „wie“ Twilight schreibt. Beispielhaft für diese Nachahmung sind wiederum Kinder. Einst besuchte mich ein Freund mit seiner fast zweijährigen Tochter. Irgendwann war diese verschwunden. Wir haben sie dann in der Küche gefunden, wo sie fleißig dabei war, Mehl, Zucker und Eier auf dem Fußboden zu vermantschen. Sie buk, wie sie sagte, einen Kuchen. Das hatte sie am Tag zuvor bei ihrer Mutter gesehen. Nur hat sie bei ihrer eifrigen Tätigkeit einige Dinge vergessen. In ähnlicher Weise kann man die ersten Gehversuche von Autoren bezeichnen. Sie sind oft unbeholfen und extrem unvollständig.
Die Nachahmung in ihrer eigentlichen Bedeutung bezeichnet Versuche, etwas „genauso wie das Original“ zu schaffen. Man schreibt wie Joanne Rowling, man komponiert wie Wagner, man benimmt sich wie Arnold Schwarzenegger.
Es gibt aber eine zweite Form der Nachahmung, die man als analogische oder strukturelle Nachahmung bezeichnen könnte. Die Analogie als logische Form bezeichnet eine Verhältnisgleichheit. Beispiel: Der Hund bewegt sich mit seinen Beinen vorwärts, wie sich das Auto mit seinen Rädern vorwärts bewegt. Das Verhältnis von Hund und Beinen ist also gleich dem Verhältnis von Auto und Rädern. Als Formel: Hund : Beine = Auto : Räder.
Solche Analogien finden wir in der Literatur häufig. Wenn Twilight Romeo und Julia nachahmt, dann nicht, indem die Autorin die Geschichte nochmal schreibt. Aber sie nutzt das Verhältnis von Romeo und Julia, um daraus das Verhältnis von Edward und Bella zu erschaffen. Man kann sagen: Romeo : Julia = Edward : Bella.
Die direkte Nachahmung ist grob. Ihre Kreativität besteht in der unvollständigen Wiederholung und muss entdeckt werden. Schlechte Literatur ist für uns Literaturwissenschaftler deshalb interessant, weil sie genau solche Effekte erzielt. So ist ein alter Lehrsatz, dass Perspektiven zwischen Protagonisten nicht willkürlich gewechselt werden dürfen. Ein Stephen King trennt zum Beispiel den Perspektivenwechsel sehr deutlich durch seine Kapiteleinteilung. Dagegen schafft Nora Roberts es, ihre Perspektivenwechsel manchmal so irrsinnig zu gestalten, dass man nicht mehr weiß, wer gerade gemeint ist. Paradigmatisch ist dafür zum Beispiel ihr Roman „Der Maler und die Lady“ (erschienen im Sammelband „Love affairs I“). Aber sie ist damit erfolgreich und kein echter Roberts-Fan bemängelt das. Der alte Lehrsatz von den gut getrennten Perspektiven verschwindet also in der „Trivial“-Literatur mehr und mehr. Ist das falsch? Das beurteilen die Literaturkritiker, nicht wir Literaturwissenschaftler.
Diese grobe, oberflächliche Nachahmung wird ergänzt durch die „feinere“, intelligiblere Nachahmung in der Analogie. Diese ahmt Verhältnisse nach. Gibt es einen Stoff, der häufiger nachgeahmt worden ist als Romeo und Julia? Kaum! Wir finden ihn in Schillers „Kabale und Liebe“, in Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“, ziemlich direkt in Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, aber auch in zahlreichen Romane von Karl May oder Nora Roberts.

Und was bedeutet das für den Schriftsteller?

Daraus können wir einige Regeln ableiten, wie ein Schriftsteller zu einem guten Schriftsteller wird.
(1a) Ahme auf grobe Weise nach! – Das heißt zum Beispiel, dass der angehende Autor einen Dialog oder eine Szene aus einem von ihm geliebten Werk nochmals, aber in eigenen Worten schreibt. So hatte ich vor über einem Jahr eine Kundin, die einen Vampirroman schreiben wollte, der viel Romantik enthielt. Unter anderem liebte diese Kundin Twilight. Ich habe ihr dann zunächst Aufträge gegeben, die einzelne Szenen ähnlich wie in Twilight in einen ordentlichen Prosatext umzusetzen.
Ein solcher Auftrag war zum Beispiel: Eine Frau muss sich neben einen Mann setzen (in einem Überlandbus). Die Frau spürt, dass der Mann etwas von ihr will, sie aber auch zugleich ablehnt. Schließlich verlässt er fast fluchtartig den Bus und hinterlässt sie total verunsichert.
Die Kundin erkannte zurecht, dass das wie bei Edward und Bella während ihres ersten direkten Zusammentreffens ist. Genau! Ich habe die Struktur der Szene aufgenommen und sie einfach nur vom Setting verschoben.
(1b) Schreibe Anmerkungen! – Anmerkungen sind schriftliche Aussagen zu bestimmten Texten. Sie sind fragmentarisch (also extrem unvollständig) und launisch, also aus dem Bauch heraus. In gewisser Weise sind sie Nachahmungen. Aber sie ahmen nicht den Text und nicht den Roman nach, sondern eher Gedanken und Gefühle, die mir beim Lesen kommen.
Da diese Anmerkungen also vor allem die Wirkung eines Romans betreffen und ich, wenn ich einen Roman schreibe, vor allem die Wirkung beim Leser bedenken muss, sind sie extrem wichtig, um ein guter Schriftsteller zu werden. Denn der einzige Leser, den ich wirklich kenne, bin ich selbst.
(2) Lies viel unterschiedliche Literaturen! – Viele Möchtegern-Autoren lesen nur ihr Lieblingsgenre. Leserinnen romantischer Vampirromane lesen nur diese, Krimileser nur Krimis. Das ist natürlich in Ordnung. Aber es hilft wenig, wenn man als Autor selbst kreativ werden möchte. Erinnern wir uns daran, dass die eine kreative Form bei Tarde aus dem „Kreuzen zweier Nachahmungsströme“ besteht. Dazu muss man sein Lieblingsgenre verlassen und zum Beispiel die großen Klassiker lesen. Oder statt der üblichen Krimis auch mal Parodien. Oder, oder.
Der Tipp, sehr unterschiedliche Literatur zu lesen, findet sich übrigens in dem Spruch wieder, über den Tellerrand zu schauen.

E-Books – ein kulturelles Politikum

Viele Rezensionen halten die Laien-Autoren für schlecht, für wenig ausgebildet und bemängeln das fehlende Lektorat.
Das ist natürlich irgendwo richtig. Aber es ist zu negativ gedacht.
Ich lese zwar keine Vampirromane und wenn, dann mit großer Unlust. Aber es gibt trotzdem einen Grund, warum ich sie schätze. Aus den Konsumenten und stillen Produzenten werden plötzlich Autoren, die veröffentlichen können. Und das finde ich toll.
Dabei ist es wirklich „wurscht“, ob dabei ein schlechtes Werk entsteht und ob dies jemals von einem „richtigen“ Verlag veröffentlicht worden wäre. Wichtig ist nur, dass hier Menschen sich aktiv ihre Kultur aneignen.
Haben wir nicht die Konsumgesellschaft beklagt und dieser einen Konsumterror unterstellt? Wir haben es. Und das völlig zurecht! Aber was ist das Problem dieser Konsumgesellschaft? Der einzelne Mensch wird nicht mehr produktiv. Das E-Book ist nicht nur ein Ärgernis. Es ist die Möglichkeit, aus dieser Konsumentenrolle auszubrechen.
Nein, ich will nicht verschweigen, dass hier vieles im Argen liegt. Es gibt die Selbstbeweihräucherer und die gewissenlosen Vielschreiber. Die Selbstbeweihräucherer nannte Immanuel Kant mal „Menschen von geputzter Seichtigkeit“. Soll sagen: sieht schön aus, ist aber ohne gedankliche Tiefe. Die Autoren solcher Romane sind noch nicht zu einer solchen gedanklichen Tiefe gekommen. Doch das kennen wir aus der Geschichte der Literatur. Wir finden diese fehlende gedankliche Tiefe bei Karl May und John Sinclair, bei Hedwig Courts-Mahler und Nora Roberts. Trotzdem haben wir diese Werke mal verschlungen. Was also solls?
Ebenso die gewissenlosen Vielschreiber. Sie nehmen jeden Trend auf. Dazu liefern sie dann in leichter Abwandlung dasselbe nochmal. Das passiert natürlich auch unerfahrenen Autoren. Während aber der unerfahrene Autor sich ausdrücken möchte, will der gewissenlose Vielschreiber Geld verdienen. Der junge Autor „scheitert“ an seinem Anspruch, der Vielschreiber will gar nicht einen Anspruch erfüllen.
Doch auch das kennen wir aus der Geschichte. Als Daniel Defoe seinen Robinson Crusoe veröffentlichte, ahnte er nicht, dass er einen Bestseller geschrieben hatte. Vor allem konnte er aber nicht wissen, dass er ein ganz neues Genre geschaffen hatte, die Robinsonade. Zahlreiche europäische Autoren haben in den folgenden Jahrzehnten immer wieder dieses Genre bedient, wie heute zahlreiche Autorinnen die Vampirromane.
Es mag also sein, dass E-Books häufig schlecht sind. Aber sie haben einige wesentliche Vorteile, die zum Abschluss noch einmal zusammengefasst werden sollen.
(1) Sie machen aus Konsumenten Produzenten.
(2) Sie eröffnen neue Wege einer „Volkskultur“, deren Kreativität sich am Rande einschreibt.
(3) Sie ermöglichen Mischungen aus verschiedenen Genres und sogar Experimente, ohne sich den Hürden einer Verlagsveröffentlichung stellen zu müssen.

Literatur
Borch, Christian/Stäheli, Urs: Soziologie der Nachahmung und des Begehrens. Frankfurt am Main 2009
Tarde, Gabriel: Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt am Main 2009


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2 Comments
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Udo
Udo
7. Oktober 2012 17:49

Jederzeit gerne, Dietmar.

Anonym
Anonym
7. Oktober 2012 17:41

Hi! Jetzt muss ich leider weg, aber ich komme wieder vorbei.

Gruß

Dietmar

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